Hallo! Hier soll die unter "Was euch stört" begonnene Diskussion über einen Artikel in der Rundschau weitergeführt werden. Ich würde echt gerne mal wissen, was ihr dazu sagt. Kann man das so über Juli sagen? Er ist lang aber lesenswert (und hoffentlich richtig zitiert:
ID: 4337655 VDatum: 24/03/2005
Publikation: FRNEU Ressort: PLUS_DO
Edition: D Seite: 27
Zeilen: 151
Autor: Tim Gorbauch, Frankfurter Rundschau
Kein Lied für Deutschland
Nur Katja Ebstein weiß um die Krise, Hartz IV und andere
Gegenwartskatastrophen, der Popmainstream hält sich die Ohren zu
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"Es wird schon wieder besser", sang Dolly Haas immer und immer wieder in
Kurt Gerrons gleichnamigen Tonfilm von 1932, "einmal muss es uns doch
schließlich wieder besser gehen". Die Krise der ausgehenden zwanziger Jahre,
die doch so golden begonnen hatten, hatte sich in allen Köpfen so
festgesetzt, dass sie sich auch ins Schellack ritzte und das Celluloid
einfärbte. Der Schlager, die musikalische Traumfabrik, die sich damals vor
allem über den jungen Tonfilm verbreitete, musste sich ihrer annehmen. Zu
desolat war die Lage, zu gewaltig das Ohnmachtgefühl.
Müdigkeit im politischen Popdiskurs
Die Musik indes wurde selten morbide noch je wirklich melancholisch,
allenfalls füllte sie sich mit sarkastischem Galgenhumor. Ihre Aufgabe blieb
das Glück des Vergessens, der selige Augenblick. Tanz drauf, schien die
Losung von Tonfilm, Revue und Schlager, und wer die frisch zusammengestellte
CD Es wird schon wieder besser. Krisenschlager auf Schellack 1929-1934 hört,
spürt vor allem eins: den aufkommenden Swing, die Lust an der Bewegung, den
Puls, der sich nach Leben sehnt. Man hätte besser hinhören sollen. Von
Märschen als Heilmittel und letzter Zuflucht war hier nie Rede.
Reisen wir kurz ins Jahr 2005 und fragen uns, welche mp3-Krisenhits aus
einem Jahr übrig bleiben werden, in dem das Wort Krise so inflationär
gebraucht wird wie schon lange nicht mehr. Liegt es am Bombardement der
Untergangsszenarien, die in dieser Woche auf uns niederprasselten, dass uns
kein einziger einfällt?
Der Blick durchstreift müde die Plattenregale, das Ohr hört sich zäh durch
Grönemeyer, Kunze, Westernhagen, kämpft sich durch das Werk der wieder
deutschrockenden und so furios mittelmäßigen Juli und Silbermond, wagt sich
an Xavier Naidoo, hofft auf Nena oder Rosenstolz - und findet nur Katja
Ebstein. "In diesem Land" heißt eines ihrer neuen, zu ihrem 60. Geburtstag
frisch auf CD erschienenen Lieder. Es ist ein lupenreiner, mit bleischwerer
Stimme intonierter Krisenschlager, eine Bestandsaufnahme in großer
Balladenform: "Jetzt vereint in der Angst / um die Zukunft in diesem Land."
Der Rest ist Schweigen.
Hartz IV und Massenarbeitslosigkeit finden als populäre Musik nicht statt.
Natürlich lässt sich der soziale Realismus, mit dem Kettcar gerade die
Nische der Hamburger Subkultur verlassen und breitenwirksam werden, als zwar
private, aber auch allgemeingültige Zustandsbeschreibung lesen. Natürlich
gibt es abseits des Mainstreams längst wieder Stimmen, die auch Popmusik
dezidiert politisch definieren, die Mediengruppe Telekommander etwa oder Von
Spar. Als Gerhard Schröder die Agenda 2010 ausrief, antwortete der
Untergrund mit einem gleichnamigen Sampler, allerdings mehr als "sozial
förderliche Alternative", wie es der Waschzettel kryptisch notiert, denn als
Protestplattform. Trotz griffiger Formeln wie "No future war gestern:
Passion ist the new loud", blieb das Echo aus.
Ohnehin ist auch im politischen Popdiskurs Müdigkeit zu spüren, seit Jahren
eigentlich schon. In der "Mutter", Nacht für Nacht Sammelbecken der
Hamburger Musikszene, hört man vom Nebentisch Sätze wie: "Ich weiß, wie
scheiße meine Wirklichkeit ist. Ich muss sie mir nicht auch noch jeden Tag
anhören." Dann lieber an den Tresen, ein Astra bitte und einen Wodka. Die
Nacht ist noch lang. Trink drauf! Fast scheint es, als habe sich vor allem
die Generation der 25- bis 40-Jährigen mit der Krise als Dauerzustand
arrangiert: Sie ist der Status quo ihres Daseins. Globalisierung, Rente,
Sicherheit - gegessen. Nicht mehr der Rede wert. Und schon gar keinen Song.
Es gibt Wichtigeres. Und vor allem Schöneres. Und vor allem Schlimmeres. Der
eigene Mikrokosmos hält genug Sorgen bereit. Wenn das Herz blutet, ist der
Rest auch egal. Wenn es blüht, frohlockt und vor Freude zerspringt auch.
"Liebe ist alles", singen, wie früher Westernhagen, Rosenstolz. Was können
Hartz IV und Arbeitslosengeld II da ausrichten?
Als Zustandsbeschreibung wäre es ohnehin zu banal. Und für die Kritik fehlt
der passende Adressat. Kein Rot-Grün, keine Regierung, nicht einmal der
Staat taugen als Feinbild. Der Gegner ist unsichtbar. Wenn er dann doch für
Momente ein Gesicht bekommt, wenn man ihn beim Namen nennen, ihm ein
ordentliches "Fuck you, Mr. Bush" entgegenschleudern kann, ist alles in
Ordnung. Aber so einfach ist es in der Regel nicht. Gegen die Nöte der
Globalisierung lässt sich schlecht singen. Schlechter zumindest als gegen
Waldsterben, Pershing II oder die Spießigkeit der Hippies. Und das Übrige
erledigt die normative Wunderwaffe der Sachzwanglogik, vor der besonders
jene kapitulieren, deren Träume an Rot-Grün hingen: Die Alternativen sind
unkenntlich, der Spielraum begrenzt, die Hoffnung geschwunden. So darf sich
der Mainstream einer alten Tugend besinnen und den Alltag erträglicher, oder,
noch besser: ihn vergessen machen.
Was bleibt ist - ach je - die große Liebe
Es lohnt also, an Großes zu erinnern. Am liebsten an die Liebe. Manchmal gar
an noch Größeres. Eine besonders schöne Form des Eskapismus erdachte Heinz
Rudolf Kunze, in diesem Jahr verantwortlich für den offiziellen Song zum
Kirchentag: "Wenn dein Kind dich morgen fragt, wozu sind wir auf der Welt?
Wenn es anfängt, sich zu wundern, wenn es wissen will, was zählt?" Dann weiß
Kunze die Antwort. Es ist: "Mehr als dies." Mehr als was? Als alles? Also
auch als die Liebe? Oder nur als Hartz IV und der ganze andere irdische
Scheiß?
Mein Gott oder von mir aus: Kunze, Grönemeyer, Westernhagen, Nena, Inga
Humpe, helft! Schenkt uns ein Lied! Ein Lied zur Krise, das uns Augen und
Ohren öffnet. Das wir dem Untergang als Ständchen pfeifen können. Das wir
auf den Lippen trügen, während wir unseren Job verlieren, unsere Rente und,
ach, unsere Zukunft - uns wäre nicht gram. Ein Lied, wie es Kurt Mühlhardt
in den frühen dreißiger Jahren trällerte: "Es muss nicht Hummer sein mit
Mayonnaise", sang er gut gelaunt, während im Hintergrund das Orchester Harry
Jacksons galant zum Tanz aufspielte, "man kann auch glücklich sein bei
Harzer Käse."
KrisenSchlager
Das goldene Zeitalter des Krisenschlagers darf zu Recht in den 20er Jahren
des Letzten Jahrhunderts vermutet
werden. Wer es nicht glaubt, der höre die CD "Es wird schon wieder besser",
erschienen bei Pumpkin Pie Records.
Den Soundtrack zur Gegenwart sucht man indes vergebens, jedenfalls bei den
üblichen Verdächtigen, also Kunze, Grönemeyer, Westernhagen, Nena etc. (von
Juli, Silbermond oder Rosenstolz gar nicht erst zu reden).
Nur das neue Album von Katja Ebstein sei allen empfohlen: "Wietkiewicz",
erschienen bei EMI/Capitol. schl