Das Thema kam ja neulich im Was-hört-ihr-gerade-Thread auf, und hier folgt nun (vor allem Mali zuliebe) endlich der angekündigte eigene Thread
Also, in den letzten Jahren gab es ja recht häufig vor Großevents eine Diskussion, ob man entweder diese Veranstaltung nicht besuchen (ob als Politiker oder als einfacher Reisender) solle oder ob man sogar keine Teilnehmer hinschicken sollte. Hier eine kleine Bilanz (falls jemand noch weitere Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit einfallen, nur immer her damit):
- 2008: Olympische Spiele in China; wenige Monate zuvor proben die Tibeter den Aufstand, und während der olympische Fackellauf unter dem Motto "Reise der Harmonie" um die Welt führt, gibt es in vielen westlichen Metropolen, etwa in London oder Paris, das eine oder andere Grüppchen, was von dieser Harmonie nicht sooo viel hält und mit aller Gewalt versucht, den Fackellauf zu stören (was selbstverständlich auch das körperliche Attackieren der Fackelläufer mit einschließt) und auf sich aufmerksam zu machen. Die Spiele selbst werden von keinem einzigen Land boykottiert, jedoch sagt das IOC für die Zukunft weltweite Fackelläufe ab und beschränkt sie auf das jeweilige Gastgeberland.
- 2011: Wegen der unsicheren politischen Lage im Land, wo sich das Volk bemüßigt fühlt, nach dem Vorbild anderer arabischer Staaten gegen die eigene Regierung auf die Straße zu gehen, wird der Große Preis von Bahrain wenige Wochen vor dem geplanten Termin abgesagt. Es ist das erste Formel-1-Rennen überhaupt, das aus politischen Gründen ausfällt. Im Jahr 2012 gibt es aus den gleichen Gründen eine ähnliche Debatte, doch diesmal findet das Rennen statt, und zwar ohne mir bekannte Zwischenfälle.
- 2012: Aserbaidschan bereitet sich auf die erstmalige Ausrichtung des Eurovision Song Contest vor und baut dazu eigens eine neue Halle für 25.000 Besucher. Da das Land von einer milliardenschweren Oligarchenfamilie regiert wird, die außerdem für das Event angeblich etwas weniger wohlhabende Bewohner der Hauptstadt aus ihren Behausungen vertreibt, regt sich auch hier Widerstand. Von den zahlreichen Interviews, die der deutsche Teilnehmer Roman Lob im Vorfeld des Events gibt, kommt kaum eines ohne die Frage aus, was er denn zur politischen Lage im Land sage. Ich weiß nicht, ob es anderen Sängern aus anderen Ländern da ähnlich ergeht, kann es mir aber sehr gut vorstellen.
- 2012: Seit dem Vorjahr befindet sich die ukrainische Oppositionsführerin und ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko wegen angeblichen Amtsmissbrauchs in Haft. Wenige Wochen vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft, die die Ukraine gemeinsam mit Polen ausrichten soll, tritt sie in einen mehrwöchigen Hungerstreik, da ihr angesichts ihres schweren Rückenleidens die Behandlung durch ausländische Ärzte lange verwehrt wird. Im Ausland löst dies eine Debatte aus, ob zumindest westliche Spitzenpolitiker dem Event fernbleiben sollen. Dies haben unter anderem die Mitglieder der EU-Kommission um José Manuel Barroso und EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy angekündigt.
- 2014 werden die Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi stattfinden, 2018 wird das Land zudem Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft sein. Und ich sehe angesichts des jüngst vereidigten neuen alten russischen Präsidenten schon wieder neue endlose Boykottdiskussionen heraufdämmern ....
Also, man kann es sich vielleicht denken: Für mich sind speziell die Diskussionen um die bevorstehende Fußball-EM in erster Linie ein Zeichen dafür, dass die Medien offenbar immer was brauchen, worüber sie schreiben können, und hier womöglich außerdem auch eine willkommene Gelegenheit gefunden haben, sich zu profilieren und ihre Macht auszuspielen. Und selbst wenn wir einmal konstatieren, dass es den Menschen in Aserbaidschan oder der Ukraine schlecht geht, bin ich der Ansicht, dass ihnen ein Boykott eines solchen Events einfach mal null komma nullnullgarnichts hilft. Für mich sind solche Boykottaktionen bzw Aufrufe nichts mehr als ein Relikt des Kalten Krieges, den ich eigentlich schon seit mehr als zwanzig Jahren überwunden glaubte (ich weiß nicht, inwieweit ihr da sportgeschichtlich im Bilde seid; aber wem dazu so auf Anhieb jetzt nix einfällt, der möge sich bitte mal über die Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles informieren)
So, das wars fürs Erste von mir; jetzt seid ihr dran: Sollte man solche Großevents wegen der politischen Umstände im Gastgeberland (ob als Teilnehmer, als Politiker, als Berichterstatter oder als ganz normaler Besucher) boykottieren? Sollten sie in solchen Ländern am besten gar nicht erst stattfinden? Oder wenn doch, haltet ihr politische Proteste (und wenn ja, in welcher Form) im Umfeld solcher Großereignisse für angemessen?
(Ich könnte vieles von dem, was ich geschrieben habe, sicherlich noch viel weiter ausführen, aber wenn, dann werde ich dies ein andermal nachholen )