Ja, ich freue mich nicht über den Sieg von Conchita Wurst beim ESC 2014. Und ich hab mir von Anfang an seeehr gewünscht, dass sie nicht gewinnen möge. Und weil ich darüber gern mal eine Diskussion in Gang setzen möchte, will ich hier und jetzt auch mal erklären warum
Zunächst eins vorweg, ich find den ESC als Konzept toll, ich freu mich jedes Jahr darauf und würde niemals aus der Menge der Beiträge, die mir nicht gefallen (oder auch der Beiträge, die diesen Wettbewerb gewinnen), daraus schlussfolgern, den Wettbewerb an sich abzulehnen.
Ich bin ja mit dem ESC vor allem in den 2000ern sozialisiert worden, also gerade in der Zeit, als der Sieger zumeist aus einem ost- oder südosteuropäischen Land kam und seinen Sieg vor allem dem nicht zu sparsamen Einsatz von Flammenwerfern, Akrobatik und/oder Ethno-Instrumenten verdankte – und natürlich nicht zuletzt auch der Mithilfe seiner Nachbarländer. Ich will damit nicht sagen, dass es in dieser Zeit nie Gewinnersongs gab, die mir gefallen hätten, so mochte ich z.B. die Beiträge von Sertab Erener 2003 oder Elena Paparizou 2005 recht gerne – aber gleichzeitig stand für mich auch fest, dass so was eben nur noch aus „exotischen“ Ländern kommen kann, wo es eben nicht zuletzt auch das Fremdländische und Ungewohnte ist, was das europäische Publikum fasziniert.
Dann eines Tages, im Jahr 2006, ging der Sieg an Lordi, eine (so wie ich sie wahrnahm) finnische Metalparodie in Herr-der-Ringe-Kostümen. Für mich war das einer der absoluten Tiefpunkte der ESC-Geschichte, zeigte es doch mehr als alles andere, dass – wenn schon nicht mit Ethnopop – man diesen Wettbewerb offensichtlich nur durch maximale künstliche Aufmerksamkeitsgenerierung gewinnen kann; durch komplett künstliche Figuren in möglichst skurrilen Kostümen und durch einen in jeder Hinsicht „krachenden“ Auftritt, der eben vor allem möglichst laut, möglichst hell und möglichst schrill zu sein hat – einen Auftritt, bei dem es auf den Song als solchen überhaupt nicht mehr ankommt.
Lenas Sieg beim ESC 2010 war in gewisser Weise ein Wendepunkt in meiner Wahrnehmung dieses Wettbewerbs. Einerseits natürlich, weil er mir gezeigt hat, dass „wir“ es auch können – dass es nicht unbedingt ein möglichst exotisches und abgeschiedenes Land sein muss, das diesen Wettbewerb gewinnt, und dass es nicht so sehr darauf ankommt, dass dieses Land bei seinen Nachbarn auch möglichst beliebt ist, egal mit welchem Song es antritt. Sondern vor allem natürlich auch, weil er gezeigt hat, wie man
auch den ESC gewinnen kann – nämlich
ohne Pyrotechnik,
ohne Trommeläffchen und Flötenschlumpf,
ohne durchgestylte Bühnenchoreografie,
ohne schrille Glitzerkostüme und/oder einen halben Farbkasten im Gesicht. Sondern einfach mit einer Performance, wo es auf den Song und auf die natürliche, unverstellte Bühnenpräsenz der Interpretin ankommt. Genau die Gründe, weshalb ich nach dem USFO-Sieg von Anfang an von Lena hingerissen war – auch wenn ich damals noch geglaubt hätte, dass sie eine krasse Außenseiterin war und beim großen ESC keinen Chance haben würde. Und ja, ich hatte in der Nacht nach dem ESC 2010 wirklich so ein bisschen das Gefühl, dass sich nun was ändert in diesem Wettbewerb, dass der ganze Pyro-Ethno-Glitzerschnickschnack nun passé ist und es eben wirklich (wieder?) mehr auf ehrliche, schlichte und gerade dadurch großartige Popmusik ankommt.
Wie auch immer, nun stehen wir im Jahre 2014, wiederum sind vier Jahre seit Lena vergangen und wiederum hat der ESC einen Sieger. Und wer ist der Sieger? Ein bärtiger Mann im Kostüm einer Glamourlady. Nun, wie auch immer: Dass so jemand schon ganz von Natur aus die Aufmerksamkeit von Publikum und Medien anzieht, bevor er auch nur eine Note gesungen hat, ist ja wohl klar. Aber auch, dass es bei einer solchen Konstellation auf den Song, den diese Figur singt, am allerwenigsten ankommt.
Das Problem, das ich mit dieser Figur habe, ist folgendes: Wenn wir uns vorstellen, dass dieser Mensch seine Perücke abnimmt, sein Makeup abwischt, sein Glitzerkleid und seine Highheels auszieht und im schlichten Alltagsoutfit auf die Bühne tritt – was bleibt dann noch von der Person Tom Neuwirth übrig? Hätte er auch nur irgendetwas an sich, was ihn befähigen würde, einen ESC zu gewinnen? Bei Lena bin ich der festen Überzeugung, dass sie auch im Schlabberlook und ungeschminkt noch immer die natürliche Königin der Bühne wäre, denn sie ist dazu geboren – an Tom Neuwirth hingegen ist alles künstlich, was seinen Erfolg ausmacht; alles das Produkt einer durchdachten und ausgeklügelten Strategie. Einer Strategie, die eben nur
mit Glitzerkleid und Pyrotechnik und einem möglichst skurrilen Auftreten zu tun hat (einem Auftreten, das eben bedeutet, auf Dauer in der künstlich geschaffenen Rolle zu bleiben). Der Song, den die Figur auf der Bühne darbietet, ist dabei nur schmückendes Beiwerk, auf ihn kommt es nicht an, und man neigt auch schnell dazu, ihn zu vergessen. Eine „normalere“ Person mit dem gleichen Song auf der Bühne hätte den ESC 2014 sicher ebenso wenig gewonnen wie ein Tom Neuwirth in seiner Zivilkleidung (ich persönlich fand sowohl den Song als auch seine Interpretation durch den Künstler schrecklich durchschnittlich, aber das nur am Rande). Irgendwo hatte irgendjemand (sinngemäß) geschrieben: Wenn man nie vom ESC und von Conchita Wurst gehört hätte, und dann eines Tages zufällig „Rise Like a Phoenix“ im Radio hört – würde man an dem Song irgendwas Besonderes finden? Und würde man (durch das reine Hören, wie gesagt) auf die Idee kommen, dass dieser Song den größten und medienträchtigsten europäischen Musikwettbewerb gewonnen hat? Ich glaube das jedenfalls nicht. Und ehrlich gesagt find ich es sogar ein wenig unfair, auf eine „solche“ Weise zum ESC-Sieg zu kommen, gegenüber jenen Musikern, die wirklich versucht haben, dies mit einem wirklich guten, hochwertigen Lied zu schaffen und das ganze Trara drumherum eher ablehnen oder auf ein gesundes Maß zu reduzieren versuchen.
Ja, ich sag es wie es ist: Ich hege gegenüber einem Konzept, das darauf baut, bewusst Aufmerksamkeit zu generieren, bewusst für möglichst viel Kamerapräsenz und möglichst viel Schlagzeilen für die eigene Person (bzw. die eigene Selbstinszenierung) zu sorgen, ein gewisses Misstrauen. Und bei Musikern schwingt bei mir da immer auch ein bisschen die Besorgnis mit, dass man damit nur etwas kompensieren will, was man auf rein musikalischem Wege nicht erreichen kann. Und auch das fand ich an Lena, verglichen mit einer Figur wie Conchita Wurst, immer angenehm: So sehr ihr auch eine ungeheure natürliches Präsenz, ein Umschwärmtwerden durch Moderatoren, Journalisten und Fans zu eigen ist – ich hatte nie den Eindruck, dass sie diese Eigenschaften
bewusst hervorruft, geschweige denn dass sie sie je gezielt ausnutzen könnte und würde, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Einer Lena geht es nicht darum, um jeden Preis selber im Mittelpunkt zu stehen (und damit andere aus dem Mittelpunkt zu verdrängen), für Schlagzeilen in Zeitungen und Fernsehen zu sorgen, usw. Und auch ihre Bühnenshows leben ja vor allem von der Person Lena und nicht von möglichst viel Bombast, mit dem sie erst in den Mittelpunkt gerückt werden soll – oder hinter dem sie sich nur versteckt?!
Es ist übrigens auch schon mehr als einmal vorgekommen, dass ich mich lange vor einem ESC in ein Lied verliebt habe, mir dann die Performance auf der großen Bühne aber überhaupt nicht gefallen hat, weil sie einfach viel zu „overdressed“ rüberkam – so war es etwa 2011 bei Getter Jaani oder dieses Jahr bei Emma Marrone. Auch da hab ich mich gefragt, wozu es noch diese kuriosen Kostüme und Choreografien gebraucht hat, wo doch die Songs (für mich) auch ohne dieses Brimborium toll genug waren.
Vor diesem Hintergrund erschien mir das Duell zwischen den Niederlanden und Österreich bei diesem ESC fast wie eine Art Glaubenskrieg zwischen guter Musik auf der einen und einer schrillen, aufmerksamkeitsheischenden Show auf der anderen Seite. Allein schon deshalb hätten die Niederlande für mich den Sieg verdient gehabt – damit auf diese Art ein Zeichen gesetzt wird, worum es beim ESC gehen sollte (bzw. wie ich ihn mir erträume), nämlich dass am Ende des Abends das beste Lied gewinnen möge
Ziemlich erstaunt hat mich jedenfalls, dass nicht wenige Lenaforisten von Conchitas Auftritt begeistert waren. Wie ich versucht habe deutlich zu machen, ist Conchita für mich künstlerisch in jeder Hinsicht der komplette Gegenentwurf zu Lena. [...]
Ach ja, und was man natürlich auch ansprechen muss: Die ganze gesellschaftspolitische Aufladung, die der Sieg der Conchita Wurst in den letzten Tagen bekommen hat. Von wegen „Sieg für die Toleranz und gegen Diskriminierung“ und so weiter. Oder gar die manchmal (zumindest implizit) anzutreffende Deutung, dass der Sieg für Conchita ein Sieg gegen Russland und gegen Putin sei. Und auch die (auf Wikipedia nachzulesende) Auffassung von Herrn Neuwirth, dass seine Figur der Conchita Wurst auch in seinem Selbstverständnis vor allem der Versuch sei, gegen Diskriminierung ein Zeichen zu setzen (und folglich weniger ein vorrangig künstlerisch gedachtes Anliegen).
Ich verhehle gar nicht, dass dieses Schwarzweißdenken vom guten Westen und bösen Osten auch gar nicht mein Ding ist. Ich verhehle auch nicht, dass ich zu diesen Dingen (bzw. allgemein zum heutigen Verständnis von „Toleranz“) auch so meine ganz eigene Meinung habe.
Es ist nach meinem Dafürhalten aber nicht mal der Hauptgrund dafür, weswegen ich Conchita Wurst ablehne – und auch nicht das, was mir zuerst durch den Kopf gegangen ist, als ich zum ersten Mal von ihrem Antreten erfahren habe, oder auch als ich ihren Auftritt im Halbfinale gesehen habe. Aber natürlich ist es für mich insofern ein wichtiger Punkt, als dass es Kritik an ihrem Sieg natürlich noch mal auf eine ganz andere Stufe stellt – dass nämlich jedwede kritische Äußerung über ihren Auftritt und ihr Auftreten ganz automatisch einen Geruch von Intoleranz und Homophobie und bösem Russentum mitbekommt. So wie es ja z.B. eine Madeline Juno auch recht deutlich zu spüren bekommen hat – ein, zwei irriterte, vielleicht etwas despektierliche Äußerungen über Conchita (ich habs nicht gesehen, bin mir aber sicher, dass sie nichts geäußert hat, was ich in diesem Zusammenhang nicht auch äußern würde) und dann sie als Jurorin noch nicht mal auf einen der vorderen Plätze gewertet, und schon geht der Shitstorm los. Genau das ist eben das, was bei einem Musikwettbewerb nicht passieren sollte und dürfte – dass Kritik an einer künstlerischen Leistung mit Argumenten niedergeknüppelt wird,
die nichts mit Musik zu tun haben.
Auf jeden Fall ist auch das ein Punkt, den ich an Lena schon immer sehr angenehm und wohltuend empfand: Sie hat so gar nichts Missionarisches, nichts Weltverbessertümelndes an sich. Sie will niemanden bewusst provozieren und herausfordern; sie versucht nicht, für irgendeine Lebensform oder irgendeine Weltanschauung bewusst einzutreten oder diese gar anderen Menschen einzuimpfen. Lena, so wie ich sie verstehe, ist ein Mensch, der sich wünscht, an den Dingen, die sie tut, selber ganz viel Spaß zu haben, und diesen Spaß nach Möglichkeit auch mit möglichst vielen weiteren Menschen zu teilen. Kurz gesagt: Lena will nicht um jeden Preis die Welt verbessern – und gerade dadurch tut sie es